Schon kurz nach der Rücktrittsankündigung von Walther Thurnherr kolportierten die Medien ein «Gerangel um den ‹achten Bundesrat›», wie der Tages-Anzeiger titelte. Sogleich wurden einerseits «die wichtigsten Namen» für die Wahl einer neuen Bundeskanzlerin oder eines neuen Bundeskanzlers genannt – etwa der ex-Generalsekretär der SVP Martin Baltisser, die Generalsekretärin des WBF Nathalie Goumaz (svp), der Generalsekretär des EDI Lukas Gresch (parteilos), der Preisüberwacher Stefan Meierhans (mitte), die Leiterin der Abteilung politische Rechte, Barbara Perriard (fdp), der Vizekanzler Viktor Rossi (glp), der Generalsekretär des EDA Markus Seiler (fdp), der Bundesratssprecher André Simonazzi (sp) oder die Staatssekretärin für internationale Finanzfragen Daniela Stoffel (parteilos). Andererseits spekulierten die Medien, ob und wie die Besetzung des Chefpostens der Bundeskanzlei die nach den eidgenössischen Wahlen anstehenden Bundesratsgesamterneuerungswahlen und die parteipolitische Zusammensetzung der Exekutive beeinflussen würde. Weil das Kanzleramt als «Trostpreis für eine Partei, die heute nicht im Bundesrat vertreten ist», gelten könne, so wiederum der Tages-Anzeiger, ergäben sich verschiedene Optionen, mit denen die Karten für die Zusammensetzung der Regierung neu gemischt würden und die Wahl zusätzlichen Pfeffer erhalte, so 24heures. Demnach hätten die GLP oder die Grünen bei Wiederholung ihres Wahlerfolgs von 2019 durchaus ein Anrecht auf den Posten, um sie «wenigstens ein bisschen an der Macht zu beteiligen», so der Tages-Anzeiger weiter. Auch für die Mitte sei das Kanzleramt eine «Entschädigung für den zweiten Bundesratssitz». Schwierig sei die Situation für die FDP dann, orakelte hingegen der Blick, wenn die Mitte bei den Wahlen den Freisinn überholen würde. In diesem Fall werde es «eng für FDP-Bundesrat Cassis» und die Partei müsse wohl mit einem Bundesratssitz und dem Bundeskanzleramt Vorlieb nehmen. Auch wenn der noch amtierende Bundeskanzler Walther Thurnherr in Interviews bekräftigte, dass die Parteifarbe der Leitung der Bundeskanzlei keine Rolle spiele, sondern vielmehr eine gute Kenntnis der Verwaltungsabläufe nötig sei, spekulierte auch die NZZ, dass alle Parteien mit einer Nomination von potenziellen Kandidatinnen und Kandidaten für das Bundeskanzleiamt ihre Wahlchancen für den Bundesrat verschlechtern würden – alle, ausser die SVP, die um ihre beiden Sitze nicht bangen müsse und deshalb auch sofort Anspruch auf das Bundeskanzleramt erhebe.
Die offiziellen Kandidaturen wurden schliesslich nach den eidgenössischen Wahlen eingereicht. Ende Oktober warf Viktor Rossi (glp) als Erster seinen Hut in den Ring. Der 55-Jährige sah im Umstand, dass er bereits seit fünf Jahren als Vizekanzler amtet und seit 2010 in der Bundeskanzlei arbeitete, die Basis für «Kontinuität an der Spitze der Bundeskanzlei», wie er in der Medienmitteilung seiner Partei verlauten liess. Er wolle sich für die Digitalisierung der Verwaltung einsetzen.
Ein paar Tage später gaben Nathalie Goumaz (svp) und Gabriel Lüchinger (svp) offiziell ihre Ambitionen bekannt. Die 58-jährige Freiburgerin war bereits 2007 – erfolglos – zu den Bundeskanzlerwahlen angetreten und hatte in den 31 Jahren in der Bundesverwaltung schon hohe Ämter unter zahlreichen bürgerlichen Regierungsmitgliedern innegehabt. Als amtierende Generalsekretärin des WBF unter Guy Parmelin wurden ihr gute Chancen zugerechnet. Auch Gabriel Lüchinger, 46 Jahre alt, war nach Botschaftertätigkeiten und zwei Jahren als Generalsekretär der SVP eine Weile persönlicher Mitarbeiter des WBF-Chefs gewesen, bevor er in sein aktuelles Amt als Chef der Abteilung Internationale Sicherheit im Aussendepartement gewechselt hatte. Mit dem Doppelticket strebe die SVP einen «dritten Sitz im Bundesratszimmer» an, kommentierte die NZZ die beiden Bewerbungen. Seine Partei habe noch nie den Bundeskanzler gestellt und sei in den vergangenen Jahren vier Mal angetreten, aber nie berücksichtigt worden, gab Fraktionschef Thomas Aeschi (svp, ZG) bei der Verkündung der von der Fraktion beschlossenen Zweierauswahl zu Protokoll.
In «letzter Minute», so die Aargauer Zeitung, gab schliesslich auch noch Lukas Gresch (parteilos) Anfang Dezember seine Kandidatur bekannt. Der aktuelle Generalsekretär des EDI – früher im EDA zuständig für die Europapolitik und unter Joseph Deiss und Doris Leuthard im Wirtschaftsdepartement – erachtete den Umstand, dass er keiner Partei angehört, nicht als Nachteil. Er verorte sich im politischen Zentrum, so der 51-jährige Luzerner zur NZZ. Der ehemalige Generalsekretär der NEBS könne mit Überparteilichkeit punkten und erhalte Unterstützung aus allen Fraktionen, urteilte die Aargauer Zeitung.
Aus dem Rennen nahmen sich in der Zwischenzeit unter anderem André Simonazzi und Daniela Stoffel. Der der SP angehörende Bundesratssprecher sah aufgrund der aktuellen politischen Konstellation kaum Chancen für eine eigene Kandidatur. Auch wenn er das Amt gerne ausgeführt hätte, sei er mit seiner Partei übereingekommen, dass es nicht der richtige Zeitpunkt für eine Kandidatur sei, so Simonazzi in Le Temps. Auch Daniela Stoffel dementierte Mitte November Gerüchte über eine mögliche Bewerbung.
Überraschungen vorbehalten, würde es damit bei der Wahl der Bundeskanzlerin oder des Bundeskanzlers zu einem Novum kommen: Mit der SVP oder der GLP würde eine Partei an der Spitze der Bundeskanzlei stehen, die dort noch nie vertreten war oder aber – ebenfalls eine potenzielle Premiere – ein parteiloser Kandidat würde in das Amt gewählt. Die Wahl selber fand im Anschluss an die Bundesratsgesamterneuerungswahlen statt. SVP-Fraktionssprecher Thomas Aeschi betonte in seinem Votum, dass es seiner Partei ernst sei und sie als wählerstärkste Partei Anspruch auf die Leitung der Bundeskanzlei habe – nachdem die FDP neunmal, die Mitte viermal und die SP einmal diesen Posten besetzt hätten. Auch wenn die Funktion apolitisch sei, sei es «falsch», das Amt als «Kompensation für die Nichtvertretung im Bundesrat zu vergeben» oder einem Parteilosen zu überlassen, der als «Einzelperson [...] kaum behaftbar» sei, so Aeschi, der in der Folge die beiden «hervorragenden Kandidaturen» Goumaz und Lüchinger anpries. Corina Gredig (glp, ZH) tat dasselbe für Viktor Rossi, der die «notwendigen fachlichen und persönlichen Kompetenzen» mitbringe.
Im ersten Wahlgang erhielt keine Kandidatur das absolute Mehr. Auf den 246 gültigen Wahlzetteln stand 98 Mal der Name Viktor Rossi, gefolgt von Gabriel Lüchinger (78 Stimmen) und Lukas Gresch (45 Stimmen). Nathalie Goumaz erhielt 24 Stimmen und 1 Stimme entfiel auf Diverse. In der Folge trat Thomas Aeschi erneut ans Rednerpult, um die Kandidatur von Nathalie Goumaz zurückzuziehen. Es sei in der Fraktion abgesprochen worden, dass man dies tun werde, wenn eine der beiden Kandidaturen zurückfalle.
Der folgende zweite Wahlgang brachte dann bereits die Entscheidung. Mit 135 Stimmen wurde Viktor Rossi für die nächsten vier Jahre zum neuen Bundeskanzler gewählt. Von den 246 ausgeteilten Stimmzetteln war einer ungültig und 103 entfielen auf Gabriel Lüchinger. Diverse erhielten noch 7 Stimmen.
Viktor Rossi bedankte sich für das ihm entgegengebrachte Vertrauen. Seine Eltern seien in den 1950er Jahren aus Italien in die Schweiz gekommen und hätten auf eine bessere Zukunft gehofft. Er könne deshalb kaum ausdrücken, was es für ihn bedeute, das Amt übernehmen zu dürfen. Er werde alles tun, um «dieser grossen Aufgabe gerecht zu werden».
In den Medien wurde die Wahl Rossis auch auf die Unterstützung durch die Mitte zurückgeführt. Die Partei von Gerhard Pfister (mitte, ZG) habe bei der GLP «nun ziemlich viel gut», kommentierte etwa die NZZ. Die Wahl sei für die SVP «bitter», weil sie mit ihren Kandidierenden nicht durchgekommen sei.
Da mit der Wahl Viktor Rossis das Vizekanzleramt vakant wurde, bestimmte der Bundesrat noch vor Weihnachten Jörg de Bernardi (sp) per Anfang 2024 zum Vizekanzler ad interim. Der 50-jährige Zürcher war bereits von 2016 bis 2019 Vizekanzler gewesen. Da de Bernardi die Stelle nicht definitiv übernehmen wolle, werde sie ausgeschrieben, so der Bundesrat in seiner Medienmitteilung.